Humboldt-Universität zu Berlin - Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus

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Dissertationsprojekt Josefine Langer: Überleben und Schreiben. Eine Verflechtungsgeschichte früher jüdischer Geschichtsschreibung der Shoah, 1945-1961

Die wissenschaftliche Erforschung der Shoah, so hieß es lange Zeit, begann in den 1960er Jahren mit der Veröffentlichung von Raul Hilbergs The Destruction of the European Jews, während ein öffentliches Bewusstsein für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands und seiner Verbündeten an den europäischen Juden:Jüdinnen erst viele Jahre später entstand. Jüngere historische Forschung aus den letzten zwei Jahrzehnten hat hingegen zeigen können, dass es bereits während des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit Bemühungen gab, das Geschehene, damals meist als khurbn (jiddisch: Katastrophe) bezeichnet, zu dokumentieren. Diese Sammlungs- und Dokumentationsvorhaben gingen in aller Regel von jüdischen Akteur:innen – meist selbst Überlebende, Geflüchtete oder Exilierte – aus und fanden in ganz Europa statt. Während die Historiographie der frühen Holocaustforschung ein wachsendes Forschungsfeld darstellt, verläuft sie bislang vor allen Dingen anhand nationaler oder sprachlicher Grenzen. Hier möchte das Dissertationsprojekt Überleben und Schreiben. Eine Verflechtungsgeschichte früher jüdischer Geschichtsschreibung der Shoah, 1945-1961 ansetzen. Ziel des Projektes ist es, die Verflechtungen unter frühen Holocaustforschenden in den Blick zu nehmen, wozu in erster Linie deren Korrespondenzen als Quellengrundlage dienen sollen.

Ausgehend von einer Auswahl von Protagonist:innen um die seit 1939 in London ansässige Wiener Library und deren Briefen untereinander sowie mit anderen Forschenden sollen deren Verflechtungen untersucht werden. Anders als Institutionen wie das Centre de Documentation Juive Contemporaine in Frankreich oder Yad Vashem in Israel ist die Wiener Library als Akteurin auf dem Feld der frühen Holocaustforschung bislang wenig untersucht worden, gilt jedoch als erste Bibliothek und Forschungseinrichtung, die eine Sammlung zum deutschen Nationalsozialismus und deren Verbrechen anlegte. Dennoch soll keine Institutionengeschichte im klassischen Sinne entstehen, sondern ihre Mitarbeitenden und deren Korrespondenzen den Anfangspunkt bilden, um die transnationalen Verflechtungen und den internationalen Forschungskontext der frühen Holocaustforschung weiter zu beleuchten. Besonderen Stellenwert haben dabei die Briefe von Alfred Wiener, Direktor der Wiener Library, von Eva Reichmann, Leiterin der Forschungsabteilung sowie von H. G. Adler, freier Mitarbeiter der Library, „Privatgelehrter“ und wichtiger Protagonist der frühen Erforschung der Shoah. Doch auch die Briefe weiterer prominenter Forschender wie Léon Poliakov und Joseph Wulf, die im Austausch mit der Library standen, sollen im Zuge des Projektes untersucht werden.

Mit dieser akteurszentrierten Perspektive soll in den Blick genommen werden, welche Beziehungen unter Forschenden entstanden, welche Fragen die Protagonist:innen in Bezug auf die Shoah und auf das selbst Erlebte – ob als Überlebende im engeren Sinne oder als Geflüchtete und Exilierte – beschäftigten, welche Methoden sie zur Beantwortung dieser Fragen entwickelten und damit schließlich, welchen Aufgaben sie sich als Forschende verschrieben. So soll mit dem Dissertationsprojekt ein Beitrag dazu geleistet werden, zu begreifen, wie das Forschungsfeld Holocaustforschung entstand, geprägt durch die Erfahrungen der Verfolgung, Vertreibung und versuchten Ermordung seiner Protagonist:innen selbst.

E-Mail-Adresse: josefine.langer[at]hu-berlin.de