Humboldt-Universität zu Berlin - Forschung und Projekte

25. Juni 2003 Die Forschung an menschlichen Organen nach "plötzlichem Tod" und der Anatom Hermann Stieve (1886-1952)

udo_schagen.gifReferent: Dr. Udo Schagen

 

In neuerer Literatur der Forschung zur Medizin im Nationalsozialismus gilt Hermann Stieve als "zentraler Leichenverwerter der Nazi-Justiz" oder gar als "Exponent von Menschenexperimenten". In der anatomischen und gynäkologischen Fachwelt ist er der Anatom, der durch seine "vorbildlichen klinisch-anatomischen Forschungen ... Grundlagen der Gynäkologie revolutioniert hat", der "König seiner Wissenschaft" und die "über das durchschnittliche Niveau des guten Wissenschaftlers weit hinausragende menschliche und wissenschaftliche Persönlichkeit".

 

hermann_stieve.gifWer war Hermann Stieve?

Über vier politische Systeme hinweg, von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus und die SBZ bis in die DDR stand er als Direktor den Anatomischen Instituten der Universitäten Halle (1921-1935) und Berlin (1935-1952) vor.

Von seinen Fachkollegen wurde und wird er u.a. als Entdecker grundlegender morphologischer und funktioneller Zusammenhänge der Keimdrüsentätigkeit des Menschen gewürdigt. Er trug wesentlich dazu bei, die Funktionsweise des männlichen Hodens und der weiblichen Eierstöcke aufzuklären, insbesondere in ihrer Abhängigkeit von Umwelteinflüssen, also von konkreten Lebensbedingungen des Menschen und den ihn beieinflussenden psychischen und sozialen Faktoren.

Voraussetzung des ärztlichen Wissens über alle Fragen der Empfängnis und ihrer Verhütung sowie aller Diagnostik und Therapie der hormonellen Funktionsstörungen ist die genaue Kenntnis des Ablaufs des weiblichen Zyklus und der ihn beeinflussenden Faktoren. Er war Thema von Stieves Forschungen wie die Voraussetzungen für das umweltbedingte Ausbleiben der Regelblutung. Damit legte Stieve Grundsteine für ein psychosomatisches Krankheitskonzept.

herman_stieve2.gifFür Stieves Fragestellung war die Forschung "an plötzlich zu Tode gekommenen" jungen Frauen notwendig. Nur bei ihnen konnte er Eierstöcke und Gebärmutter so unmittelbar nach dem Tod entnehmen, dass deren feingewebliche (histologische) Untersuchung in Zusammenhang mit dem ärztlichen Wissen über die Vorgeschichte Rückschlüsse auf den Zyklusablauf beeinflussende Faktoren erlaubten.

"Plötzlicher Tod" konnte im Tierversuch, der in Stieves frühen Arbeiten im Vordergrund stand, durch den Experimentator selbst erzeugt werden. Menschliche Keimdrüsen standen nur von (wenigen) Unfallopfern, von akut in der Klinik verstorbenen Patientinnen, von zum Tode verurteilten Straftätern zur Verfügung. Davon gab es in der Weimarer Republik nicht viele, insbesondere kaum Frauen. Das änderte sich während des NS. Von 1933 bis 1945 wurden allein in der Strafanstalt Berlin Plötzensee über 2.800 Menschen ermordet, darunter die Frauen und Männer des Widerstands. Die Leichname kamen aufgrund eines Abkommens in Stieves Berliner Anatomisch-Biologisches Institut.

Der Vortrag geht der Frage nach, ob und wieweit Hermann Stieves wissenschaftliche Forschung die Grenze juristisch und ethisch vertretbaren Handelns überschritten hat und in welchem Verhältnis die Ausübung wissenschaftlicher Tätigkeit zur Bindung an politische Ziele und Wertsetzungen steht.

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