Humboldt-Universität zu Berlin - Forschung und Projekte

29. Oktober 2003 Überblick über die Forschungslage zur Universität Berlin

RvBruch.jpgReferenten:

  • Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch: Erinnerungskultur nach 1945
  • Dr. Peter Thomas Walther: Exilanten und Remigranten
  • Prof. Dr. Michael Grüttner, TU Berlin: Studenten und Dozentenschaft

 

Erinnerungskultur nach 1945 (Vortragstext)

Referent: Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch

 

58 Jahre nach dem Ende von Nazi-Deutschland und Zweiten Weltkrieg mustert die heutige Humboldt-Universität die letzte Phase der vormaligen Friedrich-Wilhelms-Universität bis 1945. Sind die selbsternannten Erben Wilhelm von Humboldts nicht sehr spät dran mit einer solchen Aufarbeitung der eigenen akademischen Vergangenheit? Ja und nein.

Ja, denn im Unterschied zu etlichen anderen Universitäten ist die NS-Vergangenheit Berlins bislang nur in Ansätzen, nicht systematisch erforscht worden. Das hat viele Gründe, welche die Verspätung allenfalls erklären, nicht rechtfertigen. Und diese betrifft die seinerzeit nicht nur größte, sondern auf vielen Gebieten auch bedeutendste und im Ausland hochangesehene Universität des Deutschen Reiches. Auf Grund des Standorts lagen wissenschaftliche Exzellenz und politische Verquickung hier enger als sonstwo beieinander. Zudem sind wir mit erheblichen Anstrengungen auf die Zweihundertjahrfeier im Jahre 2010 ausgerichtet, wollen dabei eine auf Erfolg und Fortschritt getrimmte Perspektive vermeiden, wissen aber von den dunklen Seiten insbesondere im 20. Jahrhundert noch viel zu wenig.

Die letzte Bemerkung leitet sogleich zum nein über, denn von einer Verspätung kann kaum die Rede sein, wenn wir um uns schauen. Gerade in den letzten Jahren häufen sich Dokumentationen, Monographien und Sammelwerke zu einzelnen Universitäten im NS wie etwa Bonn, Marburg, Halle-Wittenberg und soeben Jena und Heidelberg, ohne vor Ort immer freudig begrüßt zu werden. Arbeitsgruppen wie hier in Berlin sind derzeit in München, in Tübingen, in Freiburg, in Greifswald tätig, vermutlich auch anderswo. Zudem setzen sich zur Zeit mehrere Fachdisziplinen intensiv mit ihrem NS-Erbe auseinander.

Bedarf es des Abstandes von einem halben Jahrhundert, um sich in diese Phase der Geschichte hineinzuwühlen? Wieder lautet die Antwort: ja und nein. Ich beginne mit dem nein. Selbstverständlich stehen wir insgesamt nicht am Anfang, blicken vielmehr auf eine sehr umfangreich angewachsene Forschungsliteratur zurück. Nach sporadischen Ansätzen in den sechzigern Jahren ist das letzte Drittel des 20. Jahrhundert von intensiven Untersuchungen zur deutschen Universität im Dritten Reich geprägt. Teilweise im Rahmen von Uni-Jubiläen, maßstabsetzend in Hamburg, aber auch in Göttingen, teilweise schon als kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Fachgeschichte und mit erheblichen Folgen für deren weitere Ausrichtung, etwa in Geisteswissenschaften wie Germanistik und Volkskunde, während in vielen Naturwissenschaften eine nunmehr internationale Forschungseinbindung den historischen Rückblick als überflüssig, wenn nicht gar als obsolet erscheinen ließ. Dazwischen stehen einige Sozialwissenschaften, in denen man teilweise einen solchen Rückblick für unerläßlich hielt, mehrheitlich aber wohl von einer grundlegenden und insofern befreienden wissenschaftlichen Neuorientierung schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg überzeugt war. Insgesamt überwogen historische Untersuchungen zu Fächern, Personen und Institutionen aus zeitgeschichtlichem Interesse, weniger aus deren Selbstklärungsbedürfnis heraus.

Damit zum ja, zur Begründung des aktuellen Forschungsbooms. Eine gewisse Rolle mögen neue Trends in den historischen Kulturwissenschaften gespielt haben. Binnen etwa zwei Jahrzehnten besetzen Begriffe wie Erinnerungskultur, Gedächtnisorte oder Geschichtspolitik unsere Debatten. Doch hinzu kommt etwas Zweites, vielleicht Wichtigeres. Benötigt unvoreingenommene Forschung einen Abstand von etwa zwei bis drei Generationen, um Quellen zu nutzen, die im Prinzip lange schon verfügbar sind, um Fragen zu stellen, etwa an die eigenen akademischen Lehrer nach ihrem Tun und ihrem Forschen in der NS-Zeit oder sogar an deren Schülerinnen und Schüler? Um nur auf mein eigenes Fachgebiet zu schauen: war es in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik vielleicht leichter, ein historisches Paradigma wie den Historismus zu zertrümmern und ein neues Paradigma wie etwa Historische Sozialwissenschaft aufzurichten, als Fragen an die Lehrer zu stellen, welche dem älteren Paradigma entstammten oder welche gar aufgrund ihrer heute kritisch hinterfragten wissenschaftlichen Arbeitsweise schon vor 1945 nun den Sturm und Drang der Jungen als zeitgemäße Fortsetzung unterstützten? Noch heute sind die Reaktionen auf jüngste Forschungsergebnisse in verschiedenen Fachgebieten sehr gemischt, um es neutral auszudrücken.

1966 hielt die FU Universitätstage zum Thema "Nationalsozialismus und die deutsche Universität" ab. In seiner Eröffnung warnte der damalig Rektor und Philosoph Joachim Lieber: "Das Vorhaben dieser Universitätstage würde (...) seinen Sinn verlieren (...), wollte es sich im wesentlichen darin erschöpfen, in moralisierender Manier jüngere deutsche Universitätsgeschichte, sowie die daran vorab und repräsentativ beteiligten Disziplinen und Personen unter dem Aspekt von Schuld und Unschuld abzuhandeln." Denn das, so Lieber, berge, als ausschließliches methodisches Prinzip, "die Gefahr in sich, den Moralisierenden selber von den Zusammenhängen vorschnell zu entlasten, über die er urteilt; birgt es die Gefahr in sich, das falsche Bewußtsein einer neutralen Distanz zu erzeugen bzw. zu verfestigen, das in der Attitüde des Unbeteiligtseins, des Nicht-mehr-betroffen-Seins die Ereignisse nur mehr als abgeschlossenes Geschehen vor sich hat und die angestrebte kritische Selbstreflexion um ihren möglichen und praktischen Effekt zu bringen."

Sollte diese Mahnung allzu kritisches Nachfragen abwehren? Stellte sie Verbots- oder Gebotsschilder auf? Ist sie möglicherweise aktuell erst recht in unseren derzeitigen Debatten? Ich muß das offen lassen, Sie werden sich am Ende dieser Ringvorlesung eine eigene Meinung bilden können. Wohl aber will ich nun auf den historischen Kontext jener Universitätstage eingehen, damit auf spezifische Problemlagen akademischer und politischer Kultur im Deutschland nach 1945.

1966 wurde an der FU nicht nur gemahnt, es wurde auch schon sehr präzise analysiert, so von Karl Dietrich Bracher: "Drei leitende Axiome der Universität sind in der Konfrontierung mit dem Nationalsozialismus erschüttert worden: daß wissenschaftliche Bildung und Qualifikation auch zur moralischen Bildung führe; daß unpolitische Haltung wissenschaftliche Objektivität verbürge und der beste Schutz gegen politische Manipulation und ideologische Anfälligkeit sei; und daß so verstandene Wissenschaft als ein Hort der Wahrheit unabhängig im Wandel von Gesellschaft und Politik bestehen könne." Doch eben diese Axiome waren 1966 noch keineswegs erschüttert. Zudem war die Berliner Veranstaltung, wie auch ähnliche Ringvorlesungen in München 1966 und in Tübingen schon 1965 vorrangig politisch motiviert, in kritischer Abwehr einer 1964 erschienenen Publikation mit dem provokativen Titel "Braune Universität". Die drei Vortragsreihen fußten nicht auf intensiver Forschung und sie lösten keine solche aus. Warum war das so?

Erstens: Zwar fanden sie während eines wichtigen akademischen Generationenwechsels Mitte der sechziger Jahre statt, doch die Mehrzahl der Redner gehörte einer älteren, auf Selbstklärung bedachten Generation an, während die Jungen innovativ nach vorne stürmten. Zweitens: In der politischen Kultur der Adenauerzeit und noch der Großen Koalition stand schonungslose Auseinandersetzung mit Kontinuitätsbelastungen selten auf der Tagungsordnung, schon um ständige entsprechende Behauptungen aus der DDR zurückzuweisen. Drittens: In der DDR schied akademische Selbstkritik schon deswegen aus, weil die noch recht grobschlächtige Propaganda der Ulbricht-Ära in ihrer weitgehenden Gleichsetzung von Bürgertum, Faschismus und Militarimus, kontinuierlich in Westdeutschland fortgeführt, für den eignen sozialistischen Staat als radikale Alternative nachgerade zwangsläufig solche Kontinuitätsmuster ausschied. Viertens: Mit der Studentenrevolution im Westen verlagerte sich in abgewandelter Formation das Interesse auf Beziehungen zwischen Kapitalismus und Faschismus, doch das begünstigte kaum empirische Studien zur Universität im NS, zumal die nun als aktuelle Gegner an westdeutschen Universitäten ausgemachten Professoren nur bedingt ein NS-vorbelastetes Personal repräsentierten.

Ich sagte eben, mit einer Erschütterung der von Bracher benannten Axiome war es nicht so sehr weit her. Die Ursachen reichen bis in die unmittelbaren Nachkriegsjahre zurück. Begriffe wie Schuld und Sühne wurden, insbesondere für die Universität, weitgehend als alliierter Oktroy empfunden. Als Karl Jaspers 1946 sein doppelbödig-schwieriges Buch über "Die Idee der deutschen Universität" publizierte, fanden die zeitkritischen Passagen wenig Gehör, um so mehr sein Rückgriff auf humanistische und idealistische Traditionen. In den Westzonen, aber auch in der Ostzone löste das Buch heftige Diskussionen aus. Der Berliner Rektor Johannes Stroux verordnete Lektüre und Diskussion der Schrift für Tagungen von Rektoren und Bildungsadministration, um bürgerliche Werte in den sozialistischen Neuaufbau einzubauen. Im Westen verstand der schwer NS-belastete Ernst Anrich eine Publikation von Grundschriften aus der Zeit der Berliner Universitätsgründung sehr unverfroren als Ergänzung zu Jaspers. Der Heidelberger Chirurg und Nachkriegsrektor Karl Heinrich Bauer instrumentalisierte die Schriften seines Ortskollegen Jaspers in seinen heftigen Kontroversen mit den US-Hochschuloffizieren. Bauer stellte eine mehrheitlich konsensfähige These auf: Kirchen und Universitäten hätten als moralische Instanzen die NS-Zeit unbeschädigt überstanden, und daher seien sie als intakte geschlossene Organisationen für den Wiederaufbau einer Führungsschicht in Deutschland zuständig.

Voraussetzung und Folgerung waren in beiden Fällen falsch, wie wir heute sehr genau wissen. Die damalige Wirkung in der Selbstwahrnehmung war jedoch außerordentlich groß. Es war eine wirkmächtige Lebenslüge, durchaus vergleichbar mit der These einer über den Parteien neutral-ausgleichenden Beamtenschaft, was Gustav Radbruch nach dem Ersten Weltkrieg als Lebenslüge des Kaiserreichs gegeißelt hatte. Deutsche Universitätslehrer gingen nach 1945 von wesentlich vier Voraussetzungen aus, um eine überwiegend ungebrochene Autorität von Universität und Wissenschaft zu belegen. Erstens seien die wirklich belasteten Kollegen, zugleich Verräter an vormaligen deutschen Idealen, zügig ausgeschieden worden. Man verwies im Westen etwa auf den noch in den fünfziger Jahren äußerst rührigen "Verband der nicht-amtierenden (amtsverdrängten) Hochschullehrer", im Osten auf eine sozialistische Kaderpolitik, und reklamierte im Umkehrschluß wissenschaftliche und moralische Anständigkeit für sich selbst. Das tatsächliche Ausmaß personeller wie auch fachmethodischer Kontinuitäten über 1945 hinaus sowie vielfach fein gesponnener Netzwerke erschließt sich uns jetzt erst, und das gilt auch für die DDR. 1954 waren hier mit Schwankungen nach Fachgruppen 31-46% der Universitätsprofessoren NSDAP-Mitglieder gewesen, sogar 1962 in Medizin und technischen Fächern noch bis zu 37%. Mediziner waren übrigens in Ost wie in West Spitzenreiter. Zweitens , so das Argument im Westen, habe der NS ein auf Autonomie und Selbstergänzung gegründetes und bis 1933 intaktes Universitätssystem durch seine Eingriffe ausgehöhlt; man müsse nur das Alte wiederaufbauen. Das Neue sei eben oft das Alte, so war bis in die Studentenschaft nach 1945 zu hören.

Drittens habe der NS die idealistischen und neuhumanistischen Traditionen seit Humboldt pervertiert, das sprach ich bereits in Verbindung mit der Jaspers-Schrift an, sowie in der nüchternen Analyse von Bracher 1966. Vermutlich hat ein ‚Mythos Humboldt' sich nie effektiver entfaltet als in jenen Nachkriegsjahren. Und viertens schließlich, so die These nach 1945, beruhten Universität und ihre Wissenschaften in Deutschland auf den Maximen Erkenntnis, Objektivität und Wahrheit, nicht auf Nutzanwendung. Das schloß möglichen praktischen Nutzen solch wahrer Erkenntnisse keineswegs aus, weder im 19. Jahrhundert noch im 20., und erst nicht in den großem Forschungsinstituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, woraus seit 1946 die Max-Planck-Gesellschaft hervorging. Doch nun erst, nach 1945, wurde ungemein folgenreich, etwa von Otto Hahn oder Werner Heisenberg, eine strikte Trennung zwischen positiv bewerteter Grundlagenforschung und kritisch konnotierter Anwendungsorientierung konstruiert, um zum einen den alliierten Verboten praxisrelevanter Forschung im besetzten Deutschland entgegenzuwirken, um zum anderen wahre und gute Forschung gemäß deutschen Traditionen von einseitiger Ideologisierung und Funktionalisierung im NS abzugrenzen. Wo man sich selbst einordnete, war klar, aber eben auch sehr wirkungsmächtig. Nur auf dem Erkenntnistrieb beruhende Forschung sei in ihren Ergebnissen auch für die Praxis nützlich, so hatte schon Hermann von Helmholtz im Kaiserreich betont. Daß naturwissenschaftlicher Forschungsdrang eminent praxisrelevant sein konnte, das war auch nach 1945 nicht zu übersehen; doch es wäre absurd erschienen, etwa für die Atombomben von 1945 die Entdecker der Kernspaltung im Dezember 1938 haftbar zu machen, also Otto Hahn, Lise Meitner und Fritz Strassmann. Bei Geisteswissenschaften schienen solche Auswirkungen unmöglich, aber auch ein von Forschern selbst intendierter politischer Einsatz. Mehr als ein halbes Jahrhundert später wurde ein breit angelegter "Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften" im Zweiten Weltkrieg aufgespürt. 1945 wußten sehr viele davon, doch das Dogma einer nur erkenntnisgeleiteten deutschen Wissenschaft erleichterte Verschweigen, Verdrängen und Vergessen.

Begriffe sind verräterisch. Wer etwa von deutscher Germanistik oder von deutscher Bildung sprach und dabei auf einen lange vor 1933 etablierten Sprachgebrauch ohne NS-Einwirkung verwies, nahm kaum wahr, daß es sich dabei um etwas anderes als eine von Deutschen betriebene Germanistik oder eine Bildung für Deutsche handelte. Doch Begriffe wie etwa Volk, wie Rassenanthropologie, wie Geopolitik oder Aufnordung erschienen nach 1945 allzu verräterisch; Austauschbegriffe wie Struktur, wie Humangenetik oder wie Raumforschung verschleierten weithin erfolgreich für die Autoren und oft desaströs, teilweise aber auch innovativ für die jeweiligen Fachdisziplinen, eine bemerkenswerte Kontinuität nicht nur von Personen, sondern auch von Forschungsprogrammen. All das wird seit einiger Zeit genauer für viele Fachgebiete untersucht bzw. in einem Verbundprojekt über semantische Umbauten nach 1945 flächig beleuchtet.

Ich versuchte zu zeigen, wie und warum Erinnerungskultur an deutschen Universitäten, ohne daß es den Begriff schon gab, in den ersten Jahrzehnten nach 1945 begrenzt, belastet, verdrängt und umgebogen war. Schuld und Sühne, das waren keine Zentralbegriffe in der deutschen politischen Kultur, auch wenn etwa die Evangelische Kirche, sehr kontrovers, noch vor 1949 von einer Kollektivschuld sprach oder nach 1960 eine Aktion Sühnezeichen ins Leben rief. Schuld und Sühne, das waren alliierter Oktroy und ein Roman von Dostojewski. Statt dessen lauteten die Schlüsselbegriffe in der Adenauerzeit Vergangenheitsbewältigung und Wiedergutmachung, als wenn kollektiv Vergangenheit bewältigt und von Schuld freigekauft werden könnte. Das ist nicht polemisch gemeint, mit beidem hat die frühe Bundesrepublik bemerkenswerte innen- und außenpolitische Integrationsleistungen erbracht, aber auch eine spezifische politische Kultur festgezurrt, welche Scham in Handlungsanleitungen umwandelte, die ihrerseits befreiende Normalität begleiteten. Wirtschaftsaufschwung, relativer Sozialausgleich, Integration von Kriegsverlierern wie Flüchtlinge und Vertriebene; das sog. Wunder von Bern 1954, Aufhebung forschungspolitischer Restriktionen 1955, Aufnahme in die UNO, Westbindung und Freundschaft mit Frankreich. Doch auch wissenschaftliche Integrität wurde, gerade in Kontroversen, politisch bewiesen, mit dem Göttinger Protest gegen atomare Aufrüstung 1957, mit der quälenden Fischer-Debatte nach 1961 um Deutschlands Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Aber eine rücksichtslos der Wahrheit verpflichtete Aufklärung, das fand in Bezug auf die jüngere Geschichte deutscher Universitäten und Wissenschaften kaum statt. Im Westen dominierten von unten inszenierte und von oben geschützte Schweigekartelle. Im Osten entfielen Vergangenheitsbewältigung und Wiedergutmachung auf Grund eines lange Zeit verweigerten nationalen Erbes, aufgrund einer Umdeutung von vorbelasteten Experten zu staatstragenden Kadern und aufgrund einer dogmatisch fixierten Geschichtspolitik, lange vor dem Begriff.

Das alles spiegelt sich in der Geschichte einer sehr begrenzten Aufarbeitung der Berliner Universität 1933-1945. Damit bestreite ich keineswegs wertvolle Einzelforschungen in Ost und West über viele Jahrzehnte hinweg. Es geht mir um Erinnerungskultur, also um Selbstdarstellung bei öffentlichkeitswirksamen Anlässen, und das sind bei Universitäten zumeist Jubiläen.

Als Gegenmodell zur Linden-Universität, als Ort wissenschaftlicher Freiheit und Redlichkeit verstand sich 1948 die Freie Universität in West-Berlin. Die Reden und Ansprachen bei der Gründungsfeier am 4. Dezember lassen von historischer Aufarbeitung nichts erkennen, verständlich angesichts einer unmittelbar zeitgeschichtlichen Konfrontation. Das nächste große öffentliche Dokument war die Berliner Festschrift "Veritas, Justitia, Libertas" 1954 zur 200-Jahrfeier der Columbia University New York. Die meisten Artikel behandeln aktuelle wissenschaftliche und politische Themen. Lediglich der Philosoph Eduard May greift in seinem Beitrag "Vom Geist der Wissenschaft" weiter aus, konzentriert freilich eher abstrakt auf das Objektivitätspostulat von Jaspers; der Biologe Hans Nachtsheim vergleicht, ohne konkreten Bezug auf Berlin, die NS-Rassentheorie mit dem Lyssenkoismus. Vergleichbare Publikationen erscheinen an der Humboldt-Universität in diesem Zeitraum nicht. 1960 wird dann in Ost und West die 150-Jahr-Feier der Berliner Universität mit jeweils mehrbändigen Festschriften begangen. "Forschen und Wirken" im Osten behandelt in den Bänden 2-3 einzelne Fachgebiete ohne substantielle Forschungen für die NS-Zeit, erörtert im ersten Band in vier Beiträgen einige Antifaschisten und Widerständler. Auch der 1960 ergänzende Text- und Bildband "Die Humboldt-Universität. Gestern - Heute - Morgen" enthält keine historisch substantiellen Beiträge, ebenso wenig der aufwendige Text- und Bildband "Die Humboldt-Universität zu Berlin" von 1976. Die zweibändige West-Berliner Festschrift von 1960 dokumentiert im ersten Band "Idee und Wirklichkeit" Gründungs- und Wirkungsgeschichte bis 1909, im zweiten Band "Studium Berolinense" werden die Fakultäten und ihre Fächer abgehandelt, ohne erkennbaren Forschungsbeitrag für die NS-Zeit. Erst die bereits erwähnten FU-Universitätstage von 1966 markieren eine, freilich forschungspolitisch weitgehend folgenlose Zäsur. Die 175-Jahr-Feier 1985 wird im Osten entgegen den Planungen mit einem eher schlichten zweibändigen Schuber reich illustriert, freilich ohne Forschungswert bedacht. Zu wirklich spannender Konkurrenz forderte das Berliner Stadtjubiläum 1987 heraus. Drei Westberliner Broschüren produzieren ein gefällig-feuilletonistisches Ungefähr über Wissenschaften in Berlin, als dauerhaft bedeutend erweist sich trotz ideologischer Prämissen ein Band aus dem Osten "Wissenschaft in Berlin", freilich nicht von der Universität, sondern von Wissenschaftshistorikern der Akademie der Wissenschaften erarbeitet. Das wohl bedeutendste Werk zur Berliner Universität in der NS-Zeit zum Thema "Verfolgte Berliner Wissenschaft" von Rudolf Schottländer wurde in der DDR verfaßt, aber auf abenteuerlichen Wegen 1988 in West-Berlin publiziert.

Insgesamt keine ermutigende Bilanz. Im letzten Jahrzehnt wurde Bemerkenswertes für Wissenschaftsbereiche, für Personen, Institutionen und Spezialprobleme geleistet. Von einer historischen Durchdringung der eigenen Vergangenheit, welche sich mit den besten Dastellungen zu anderen Universitäten messen kann und welche der exponierten Situation Berlins gerecht wird, sind wir aber noch weit entfernt. Gerade die heutige Humboldt-Universität steht im Schatten der NS-Zeit, und die Jubelfeier 2010 wäre ohne kritische historische Aufklärung verlogen.

 

Überblick über die Forschungslage zur Universität Berlin: Exilanten und Remigranten
(Zusammenfassung des Vortrages)

Referent: Dr. Peter Th. Walther

 

Der Forschungsstand der Exil- und Remigrationsforschung ist heutzutage, was Wissenschaftler(innen) betrifft, erfreulich anarchisch und gleichzeitig desolat orientierungslos.

Wie ist diese Lage entstanden? Abgesehen von Einzelforschungen entstand Exilforschung als Projekt seit den 1950er Jahren als germanistisches Projekt in Stockholm und als Forschungsfeld aus dem deutschen Sprachraum emigrierter Juden am Leo Baeck Institut mit seinen drei Stammsitzen in New York, London und Jerusalem. Die wissenschaftliche Emigration und Remigration fand erst später stärkere Berücksichtigung, als sowohl in der Bundesrepublik Deutschland (alten Zuschnitts) wie in der DDR und später auch in der Republik Österreich umfangreiche Forschungsprojekte installiert wurden. In diesen Fällen ging es um die Aneignung einer anderen, verlorenen, besseren oder korrigierenden Vergangenheit unter den Bedingungen des regulierten Kalten Krieges: Im Westen etablierte die DFG 1974 ein neunjähriges Schwerpunktprogramm zur Exilforschung, koordiniert von Wolfgang Frühwald, im Osten nahm 1975 eine Arbeitsgruppe der Akademie der Künste der DDR und der Akademie der Wissenschaften der DDR unter Werner Mittenzwei die Arbeit auf - beide "Arbeitskombinate" führten bis Mitte der 1980er Jahre zu einer Reihe ansehlicher Publikationen.

Eine Studie von Schottländer, der Anfang der 1960er Jahre die Vertreibungen aus der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin untersuchte, durfte in Ost-Berlin nichtv gedruckt werden und erschien in verkürzter Fassung erst 1988 in West-Berlin. Was 1960 eine Pionierleistung darstellte, war 1988 jedoch völlig überholt.

Eine "Summa" des Forschungsstandes und Kanonisierung von Forschungsergebnissen versucht das "Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945", 1998 von Claus Dieter Krohn und drei weiteren Herausgebern veröffentlicht. Dieser grosse Quasi-Abschlussbericht und die seit 1983 erscheinende Zeitschrift "Exilforschung" haben jedoch keinen neuen Impuls in der Forschungslandschaft ausgelöst. Die Notwenigkeit von Qualifizierungsarbeiten, die Weiterverwertung altesnSpezialistenwissen und zufällige Archivfunde bestimmen das Feld; Kontakte unter Exilforscher(inne)n sind mager und oft zufällig, es gibt keine Klarheit über nächste Forschungsschritte geschweige denn eine Theoriedebatte über die Defizite des Forschungsgebietes. Also eine Situation voller Chancen und Optionen, die z.B. die Arbeitsgruppe "Politische und Sozialgeschichte der Universität Berlin 1810-2010" hier an der Humboldt-Universität schamlos ausnutzen wird.