Karl Scharpf, M.A.
- Name
- Karl Scharpf M.A.
- karl.johann.scharpf.1 (at) hu-berlin.de
Dissertationsprojekt: Die Wahrheit der Anderen. Zeugnis, Zweifel und Zauberei in der barocken Topographie (ca. 1630–1720)
Das Dissertationsprojekt untersucht die epistemische Funktion von Zeug*innenschaft in barocken Topographien des 17. und frühen 18. Jahrhunderts und fragt nach ihrem Anteil an der Formierung von „Wahrheitsangeboten“ in der Frühen Neuzeit. Im Zentrum stehen großformatige Wissenskompilationen (u. a. von Martin Zeiller, Johann Jakob Scheuchzer und Johann Weichard von Valvasor), in denen alltagsweltliche Erfahrungsberichte über Regionen Europas, seine Naturphänomene, soziale Praktiken und lokale Ereignisse gesammelt, bewertet und hierarchisiert wurden. Diese Texte integrieren in hohem Maße Aussagen marginalisierter Gruppen – etwa bäuerlicher Untertan*innen, Frauen oder sozial Randständiger –, deren Beobachtungen jedoch stets in einem Aushandlungsfeld von Glaubwürdigkeit, sozialer Position und normativer Erwartung verhandelt werden.
Ausgehend von der leitenden These, dass Zeug*innenschaft in diesem Kontext nicht nur als empirisches Legitimationsinstrument fungierte, sondern als soziale Praxis der Wissensordnung, argumentiert das Projekt, dass Glaubwürdigkeit weniger eine feste soziale Eigenschaft war als vielmehr ein situativ erzeugtes und kontextabhängiges Verhältnis. Im Unterschied zur bisherigen Forschung, die Glaubwürdigkeit primär als Ausdruck ständischer Hierarchien interpretiert, fragt die Arbeit nach der Rolle situativer Expertise: Auch Personen außerhalb etablierter Wissenseliten – etwa Viehhirten, Färberinnen, Handwerker oder Heilerinnen – konnten in bestimmten epistemischen Settings zu Expert*innen werden, sofern ihre Aussagen an spezifische Erfahrungsräume oder Praktiken rückgebunden waren. Glaubwürdigkeit erscheint damit als kontingente Ressource, die zwischen Autor, Zeug*in und Publikum sozial verhandelt und textuell ausgestaltet wurde.
Besondere Aufmerksamkeit gilt epistemisch instabilen Bereichen frühneuzeitlicher Deutungspraktiken, in denen die Zeugnisproduktion als empirische Brücke funktionierte – etwa bei Wetteranomalien, Teufelssichtungen oder vermeintlicher Zauberei. In solchen „Grenzfällen der Natur“ diente Zeug*innenschaft als zentrale Strategie der Kontingenzreduktion und machte Beobachtungen bzw. Erfahrungswissen zu einem Medium sozialer und epistemischer Macht. Methodisch verbindet das Projekt historische Wissensforschung, Diskursanalyse und Wissenschaftssoziologie. Ziel ist es, eine dynamische Wissensgeschichte der Zeug*innenschaft vorzulegen, die barocke Topographien als Räume situierter Wissensproduktion sichtbar macht und die soziale Genese von „Wahrheit“ neu perspektiviert – jenseits standesgebundener Legitimation und jenseits der Gelehrtenstube.
Lehre im Wintersemester 2025/26
Übung: Zeugnis und Zeug*innenschaft in der Frühen Neuzeit (mehr)
Projekttutorium: Wahnsinn und Ordnung: Dimensionen frühneuzeitlicher ‚Geisteskrankheiten‘ (mehr)