Humboldt-Universität zu Berlin - Geschichte Westeuropas und transatl. Beziehungen

Forschungsprojekte

Im Folgenden finden Sie eine Übersicht über die einzelnen Projekte des Lehrstuhls.

Der Radikalenerlass in West-Berlin: Entstehung – Wirkung – Folgen

 

Der heute allgemein als „Radikalenerlass“ titulierte Beschluss der Regierungen des Bundes und der Länder zur Überprüfung von Bewerber:innen für den öffentlichen Dienst auf deren Verfassungstreue vom 28. Januar 1972 wurde bis in die frühen 1990er-Jahre hinein in die Praxis umgesetzt. In diesen knapp zwanzig Jahren wurden 3,5 Millionen Personen von der Regelanfrage bei den Ämtern für Verfassungsschutz erfasst und ca. 11.000 Verfahren gegen Bewerber:innen für den öffentlichen Dienst von Bund und Ländern eingeleitet. In über 1.000 Fällen führten diese zur Nichteinstellung bzw. Entlassung aus dem öffentlichen Dienst. Der Erlass zählt heute zu den im zeithistorischen Diskurs überwiegend für verfehlt gehaltenen Maßnahmen der westdeutschen Innenpolitik im Spannungsfeld von „wehrhafter Demokratie“, Fundamentalliberalisierung und deutsch-deutscher Systemkonkurrenz.

 

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Protest gegen Berufsverbote am Kurfürstendamm am 27. Mai 1978.
Foto: Jürgen Henschel (FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum).

 

In West-Berlin lagen die Fallzahlen nach bisherigem, aber zu hinterfragendem Kenntnisstand mit 68.000 Überprüfungen und 196 Nichteinstellungen bzw. Entlassungen signifikant höher als im Bundesdurchschnitt. Dabei ist noch zu klären, ob die Ursachen eher in einer rigideren Durchführung oder in den besonderen sozio-demographischen und politischen Verhältnissen West-Berlins zu suchen sind.
Am 2. September 2021 hat das Abgeordnetenhaus den Senat aufgefordert, „sicherzustellen, dass die auf der Grundlage des Radikalenerlasses vom 28. Januar 1972 erteilten Berufsverbote und deren Folgen für die Betroffenen wissenschaftlich aufgearbeitet und die Ergebnisse in geeigneter Weise öffentlich zugänglich gemacht werden“ (Drucksache Nr. 18/4041 und 18/3787).


Das an der Humboldt Universität zu Berlin und der Freien Universität Berlin angesiedelte Forschungsprojekt Der Radikalenerlass in West-Berlin: Entstehung – Wirkung – Folgen" unter Leitung von Prof. Gabriele Metzler, Prof. Paul Nolte und Prof. Martin Sabrow kommt diesem Auftrag seit Januar 2024 nach. Das Projekt reiht sich ein in bereits existierende Forschungen zu anderen Bundesländern (Hamburg, Baden-Württemberg, Niedersachsen). Durch eine intensive Einbeziehung von Zeitzeug:innen soll es allerdings die unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten Akteur:innen stärker berücksichtigen als dies in der Forschung bislang geschehen ist. Zudem bietet der regionale Schwerpunkt auf West-Berlin die Chance, auch die Verflechtungsgeschichte der beiden deutschen Teilstaaten zu thematisieren.


Die Untersuchung konzentriert sich auf folgende Leitfragen aus drei Bereichen.


1.) Staatliche und politische Akteur:innen: Unter welchen parteipolitischen Konstellationen, öffentlichen Überlegungen und administrativen Erwartungen vollzog sich die Übernahme des Radikalenerlasses in West-Berlin? Lässt sich zu Recht von einer besonderen Härte der Beschlussanwendung im Ländervergleich sprechen, und wenn ja, worauf lässt sich diese zurückführen?


2.) Die Gruppe der vom Erlass Betroffenen: Wie gingen diese mit ihrem (drohenden) Berufsausschluss um? In welchem Maße organisierten sie Widerstand und wechselseitige Unterstützung, und welche Wirkung entfaltete dies? Welche Folgen zeitigte der Radikalenerlass für ihre beruflichen Karrieren, welche „eigensinnigen“ Auswegstrategien setzten sie ihm entgegen?


3.) Gesellschaftsgeschichtliche Verortung: Wie entwickelten sich von 1972 bis heute im politischen Raum und in der Öffentlichkeit Zustimmung zu, Enttäuschung über und Abkehr von der Praxis der Regelüberprüfung? Warum bildet der Radikalenerlass mit seinen erheblichen sozialen Folgen bis heute keinen herausragenden Erinnerungsort des gesellschaftlichen Gedächtnisses? Schließlich: Wie
lässt sich vor diesem Hintergrund die Praxis der Regelüberprüfung in die Geschichte der Bundesrepublik „nach 1968“ einordnen?

 

Eine Publikation der Ergebnisse ist für 2026 geplant.

 


Wissenschaftliche Leitung

 

Prof. Dr. Gabriele Metzler

https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/gewest/personen/1681938

 

Prof. Dr. Paul Nolte

https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/institut/mitglieder/Professorinnen_und_Professoren/nolte.html 

 

Prof. Dr. Martin Sabrow

https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/zeitgeschichte/neueste-und-zeitgeschichte/personen/1683232

 

 
 
Wissenschaftliche Mitarbeitende

 

Dr. Jan-Henrik Friedrichs ist Historiker und systemischer Familientherapeut. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Gesellschafts-, Kultur- und Bewegungsgeschichte nach 1968, die Geschichte der Geschlechter, Körper und Sexualitäten sowie die Methoden der Diskursanalyse und Oral History. In seiner Promotion an der University of British Columbia befasste er sich mit der Verräumlichung von Jugenddevianz am Beispiel der Heroin- und Hausbesetzerszenen in West-Berlin und Zürich. Anschließend arbeitete er mehrere Jahre in einem Forschungsprojekt zur Geschichte des Pädophiliediskurses und des sexuellen Missbrauchs an der Universität Hildesheim. 2019-2022 leitete er ein DFG-gefördertes Forschungsprojekt zu den Auswirkungen des „Radikalenerlasses“ im Feld Schule am Beispiel Bremens.

 

E-Mail: jan-henrik.friedrichs@hu-berlin.de

Website: https://hu.berlin/jhfriedrichs

 

Ausgewählte Veröffentlichungen

- "'Wir waren so wütend und hilflos.' Emotionsgeschichtliche Zugänge zu den Berufsverboten für linke Lehrkräfte in den 1970er Jahren", WerkstattGeschichte, Nr. 88 (2023), S. 89–103.

- "'Hier begann der Angriff der Systemveränderer'. Schulreform und Radikalenbeschluss in den frühen 1970er Jahren", in: Edgar Wolfrum (Hg.): Verfassungsfeinde im Land? Der 'Radikalenerlass' von 1972 in der Geschichte Baden-Württembergs und der Bundesrepublik, Göttingen 2022, S. 562–596.

- "Der Radikalenerlass von 1972 – Bildungsgeschichtliche Perspektiven", Essay auf bildungsgeschichte.de (2022).

- "Berufsverbote und Radikalenbeschluss. Perspektiven der und auf die Betroffenen", Dossier der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu 50 Jahren Radikalenerlass (2022).

- „‚Was verstehen Sie unter Klassenkampf?‘ Wissensproduktion und Disziplinierung im Kontext

des ‚Radikalenerlasses‘“, Sozial.Geschichte Online 24 (2019), S. 67–102.

 

 

Dr. Julia Hörath ist Historikerin mit Forschungsschwerpunkten in der Geschichte des Nationalsozialismus, hier insbesondere der Konzentrationslager und der Verfolgung sozialer Randgruppen, und der Geschichte der Bundesrepublik, vor allem von Protest und sozialen Bewegungen. Von 2006 bis 2009 nahm sie am PHD-Programm des Birkbeck College/University of London im Forschungsprojekt „Before the Holocaust. Concentration-Camps in Nazi-Germany, 1933– 1939 teil. Julia Hörath promovierte 2013 an der Freien Universität Berlin mit einer Studie über die KZ-Einweisung von sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“, für die sie den Herbert-Steiner-Preis erhielt. Zwischen 2017 und 2023 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung und 2023 am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam beschäftigt. Als freie Historikerin hat sie zudem mit verschiedenen KZ-Gedenkstätten zusammengearbeitet und an deren Ausstellungen mitgewirkt.

 

E-Mail: julia.hoerath@fu-berlin.de

Website: https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/institut/mitglieder/Wissenschaftliche_Mitarbeiterinnen_und_Mitarbeiter/Hoerath.html

 

Ausgewählte Veröffentlichungen

- Die KZ-Einweisung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ bzw. „Berufsverbrecherinnen“ im Nationalsozialismus. Rechtliche Konstrukte und kriminologische Diskurse, in: Frank Nonnenmacher (Hrsg.), Die Nazis nannten sie „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik, Frankfurt/New York 2024, S. 51–85.

- Heimtückevorwürfe“ gegen Angehörige sozialer Randgruppen. Verfolgungsschicksale sozial stigmatisierter KZ-Häftlinge, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 70 (2022) 12, S. 1024–1043.

- Mit Kathrin Fahlenbrach, Protest im Bild. Zur fotografischen Dokumentation der Hausbesetzungen in Hamburg, in: Sozwissarchiv.de, 2022, online unter: https://sozwissarchiv.de/protest-im-bild/

- „Opa halt’s Maul“. Proteste gegen die Neonazi-Aufmärsche während der Wehrmachtsausstellung, 2001 bis 2004, in: Mittelweg 36 30 (2021) 5, S. 106–123.

- Quellen über zeitgeschichtlich „junge“ Ereignisse. Die Überlieferung zu den linken und linksliberalen Protesten während der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ in Berlin, München und Hamburg (2001–2004), in: Sozwissarchiv.de, 2021, online unter: https://sozwissarchiv.de/quellen-zeitgeschichtlich-junger-ereignisse/

- „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Göttingen 2017 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 222).

 
 
Studentische Hilfskräfte

 

Sophie Behrendt studiert seit Oktober 2023 im Master „Global History“ an der Humboldt Universität und Freien Universität in Berlin. Ihren Bachelor in Geschichtswissenschaften mit dem Nebenfach Öffentliches Recht hat sie im September 2023 an der Universität Tübingen abgeschlossen. Ihre Interessensschwerpunkte liegen im Bereich der transnationalen Sozial- und Politikgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert.

E-mail: s.behrendt@fu-berlin.de

 

Linda Giacobello studiert seit Oktober 2021 Geschichtswissenschaften und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Interessensschwerpunkte liegen im Bereich der Geschlechter-, Sozial- und Politikgeschichte mit einem Fokus auf sozialen Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert.

E-mail: linda.giacobello@hu-berlin.de