Humboldt-Universität zu Berlin - Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts

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Jan-Martin Zollitsch: Das deutsche Militär und exzessive Gewalt im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71

Mit dem Forschungsprojekt soll das der Forschungsgruppe titelgebende Konzept der „militärischen Gewaltkulturen“ auf den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 Anwendung finden. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf Fragen nach den langen Linien einer Brutalisierung der Kriegführung im 19. und 20. Jahrhundert, den entgrenzenden Praktiken „illegitimer“ (Gegen-)Gewalt sowie der These einer spezifisch preußisch-deutschen militärischen Gewaltkultur. Im Fokus steht dabei insbesondere der Krieg gegen die francs-tireurs. Die situationalen und dispositionalen Dimensionen exzessiver Gewaltakte in diesem „kleinen Krieg“ bzw. „Krieg von unten“ sollen auf breiter Quellengrundlage untersucht werden.

 

 

Die Bedeutung von militärgeschichtlichen Aspekten des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 ist angesichts der unstrittigen Relevanz von Erstem und Zweiten Weltkrieg bislang kaum wahrgenommen worden. So wurden von den als „total“ klassifizierten Weltkriegen die militärischen Konflikte des vorangegangenen Säkulums als etwas kategorial Anderes abgegrenzt, wodurch das europäische 19. Jahrhundert als eine nachgerade friedliche Epoche erscheinen konnte. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Krieg von 1870/71 schien sich dadurch zu erübrigen. Eine solche Sicht trübt jedoch den Blick für die Kontinuitätslinien, die den Krieg von 1870/71 mit den Kriegen des 20. Jahrhunderts verbinden. Wenn nach Ursprüngen der entgrenzten Gewalt vor den Weltkriegen gesucht wurde, fiel der Blick auf die kolonialen Konflikte. Hingegen kann eine militär- und emotionsgeschichtliche Untersuchung des Krieges von 1870/71 verdeutlichen, inwiefern eine Brutalisierung der Kriegführung erstens bereits vor den deutschen Kolonialkriegen und zweitens in den Kerngebieten des „zivilisierten Europas“ stattgefunden hat. Es soll also nicht nur die strikte Zäsur zwischen dem Krieg von 1870/71 und dem Ersten Weltkrieg infrage gestellt bzw. zugunsten der Behauptung einer stärkeren Kontinuität relativiert werden. Mit der Betonung von Kontinuitätslinien verbunden ist die These, dass die im Kontext der Gewaltexzesse vollzogenen Tabubrüche die Annahme bestätigen, dass die eigentliche Zäsur in den 1870er/80er Jahren zu verorten ist, mit der Ulrich Herbert zufolge die „Hochmoderne“ begann. Damit leistet die Arbeit über den militärgeschichtlichen Erkenntnisgewinn im engeren Sinne hinaus einen zentralen Beitrag zur Debatte über die Zusammengehörigkeit von Gewalt und Moderne. Zugleich stellt das Projekt Annahmen in Frage, wonach die Zu- oder Abnahme von Gewalt in der Moderne bestimmten Gesetzmäßigkeiten folge. Schließlich waren die Praktiken exzessiver Gewalt in den Jahren 1870/71 nicht neu, sondern lassen Muster erkennen, die sich bereits in den antinapoleonischen Kriegen ausgeprägt hatten. Die Beobachtung, dass sich in den Dekaden danach innerhalb Europas die Gewalt hatte einhegen lassen, um dann im Kontext des Kampfes gegen die francs-tireurs 1870/71 Formen erneuter Brutalität anzunehmen, fügt sich weder in das Narrativ zunehmender Gewalt in der Moderne noch in das der Zivilisierung und damit des kontinuierlichen Rückgangs von Gewalt. Damit illustriert die entgrenzte Gewalt im Krieg von 1870/71 die inhärente Widersprüchlichkeit des 19. Jahrhunderts. Zudem wird die Notwendigkeit deutlich, als zentrale Analyseebene die situativen Kontexte in den Blick zu nehmen, die den Ausbruch dieser illegitimen Gewaltformen begünstigten.

Das Dissertationsprojekt ist als Teilprojekt 4 Teil der DFG-Forschungsgruppe 2898 „Militärische Gewaltkulturen – Illegitime militärische Gewalt von der Frühen Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg“, die vom Lehrstuhl Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam koordiniert wird.