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Gelebte Kollaboration. Die Turkestanischen Legionäre in der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und ihre Integration in die Nachkriegsgesellschaften

 

Dissertationsprojekt von Iftikhor Shomurodov

Betreuer: Prof. Dr. Jörg Baberowski

 

Das Dissertationsprojekt behandelt das Problem der deutsch-mittelasiatischen Kollaboration im Zweiten Weltkrieg und deren Folgen. Der Fokus liegt dabei auf der „Turkestanischen-Legion“, einer militärischen Formation, die von Wehrmacht und Waffen-SS aus kriegsgefangenen mittelasiatischen Rotarmisten aufgestellt wurde. Insgesamt standen im Verlauf des Zweiten Weltkrieges mehr als 180 000 Mittelasiaten auf deutscher Seite und kämpften gegen die Rote Armee an der Ostfront und gegen die Alliierten an der Westfront. Nach ihrer Repatriierung in die Sowjetunion wurden sie verfolgt und stigmatisiert. Nur wenigen gelang es im Westen, sich dem Zugriff des stalinistischen Regimes auf Dauer zu entziehen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre begann in den Republiken Mittelasiens die Auseinandersetzung mit den ehemaligen Legionären im In- und Ausland.

Das Projekt kreist um zwei thematische Schwerpunkte: Im ersten Teil geht es um die gelebte Kollaboration, also um die Begegnung zwischen Deutschen und Mittelasiaten unter den Bedingungen des Zweiten Weltkrieges. Einige der folgenden Fragen verleihen diesen Komplex seine Struktur: Aus welchen Kontexten stammten jene, die mit den Deutschen kollaborierten? Was waren ihre Interessen und Motive, um in die Legion einzutreten? Welche Rolle spielten die stalinistischen Säuberungen und Repressalien bei der Zusammenarbeit mit den Deutschen? Aber auch welche Rolle spielten Gewalt und Zwang im Alltag der Legionäre? Wie verorteten sich Mittelasiaten untereinander, aber auch in Beziehung zu den Deutschen? Indem das Projekt Antworten auf diese Fragen findet, leistet es einen Beitrag zur aktuellen Debatte um Kollaboration und Kooperation im Nationalsozialismus. Anders als es in den meisten Untersuchungen zu diesem Themenkomplex der Fall ist, fragt die beabsichtigte Studie jedoch nicht nur nach "Erfolgen", Konflikten und beiderseitigen Wahrnehmungen, sondern situiert die zu untersuchenden Personen im Spannungsfeld von Stalinismus und National¬sozialismus. Damit trägt das Projekt zur Erforschung der bislang kaum untersuchten Geschichte muslimisch-mittelasiatischer Kollaboration mit den Nationalsozialisten bei.
Der zweite Teil des Forschungsvorhabens fragt nach dem Platz der ehemaligen Legionäre in verschiedenen Nachkriegsgesellschaften, insbesondere jedoch in den mittelasiatischen Republiken der Sowjetunion. Wie verhielten sich diejenigen Legionäre, die in eine Gesellschaft zurückkehrten, in der, nicht nur die Kollaboration, sondern auch die deutsche Gefangenschaft als Verbrechen galt? Wie versuchten sie sich in lokale Gesellschaften zu integrieren und wie reagierten ihre Mitmenschen auf ihre Präsenz? Welchen Einfluss hatte die Formierung unabhängiger Staaten in Mittelasien auf diesen Diskurs? Anhand von Egodokumenten, wie Tagebüchern und persönlichen Nachlässen sollen am Beispiel einiger Protagonisten Identitätskonstruktionen untersucht und individuelle Prozesse der Sinngebung des Vergangenen beschrieben werden. Das Projekt bietet somit die Möglichkeit, Individuen in unterschiedlichen Kontexten, also in Mittelasien in der frühen Sowjetunion, in der Legion und nach dem Krieg, zu untersuchen.