Humboldt-Universität zu Berlin - Geschichte Osteuropas

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Die Auflösung des Ansiedlungsrayons während des Ersten Weltkrieges

 

Dissertationsprojekt von Anastasia Kempke

Betreuer: Prof. Dr. Jörg Baberowski

 

Das Russische Imperium war ein Vielvölkerimperium und am Anfang des 20. Jahrhunderts auch ein Zuhause für die Hälfte aller Juden der Welt. Dabei lebten sie nicht über das gesamte Territorium verstreut, sondern sehr kompakt auf einem rechtlich klar umrissenen Gebiet, dem sogenannten Ansiedlungsrayon (čerta evrejskoj osedlosti). Kein Buch, kein Text, keine Erinnerung über und von den „russischen Juden“ kommt ohne die Erwähnung der „čerta“ aus. Ihr Anfang und Ende sind ziemlich klar datierbar. Der Anfang ist verbunden mit den Polnischen Teilungen und das Ende mit dem Ersten Weltkrieg.

Die Frage der Beschränkung der Freizügigkeit und der Wohnrechtsfrage blieb bis zur Februarrevolution 1917 die zentrale rechtliche Diskriminierung der Juden im Zarenreich. Der Ansiedlungsrayon ist ein Synonym, ein Sinnbild und eine anerkannte Chiffre für die gesamte Geschichte der „russischen Juden“ geworden. Im Königreich Polen und dem Ansiedlungsrayon entstand eine eigene Welt der aschkenasischen Juden, die sich im multiethnischen Mikrokosmos des Schtetls abspielte. „Beyond the pale“ (Nathans) gelangen nur wenige. Während des Ersten Weltkrieges, der sich für das Zarenreich vor allem auf dem Territorium des Ansiedlungsrayons abspielte, wurden hundert Jahre alte Strukturen aufgebrochen. Mit der Flucht und Vertreibung gelangen Tausende Juden ins Innere des Zarenreiches.

Das Dissertationprojekt widmet sich sowohl der rechtlichen Frage, wie der Prozess der Auflösung des Ansiedlungsrayons abgelaufen ist und wie die jeweiligen staatlichen Verwaltungsebenen darauf reagierten, als auch den Begegnungen vor Ort. Wie John Klier richtig angemerkt hat, fehlte es den Bewohnern des russischen Kernlandes an einer langen Geschichte der Interaktion mit Juden. Mit Deportationen, Vertreibungen und Flucht während des Ersten Weltkrieges veränderte sich die Situation erheblich. Wie reagierten die Menschen vor Ort auf die Neuankömmlinge? Welche Konflikte wurden ausgetragen? Welche Stereotypen gegenüber den Juden kamen zum Vorschein und welche wurden nicht geäußert? Wie verlief die Eingliederung der jüdischen Flüchtlinge in für sie neuen Ortschaften? Wurden Juden überhaupt aus der Masse der Flüchtlinge auf irgendeine Art und Weise separiert? Diesen Fragen widme ich mich im Dissertationsprojekt.