Andreas Guidi
Generationen im Wandel?
Rhodos im Übergang von spätimperialer zu totalitärer Herrschaft (1900-1930)
Mein Dissertationsprojekt soll gesellschaftliche Prozesse im urbanen und multikonfessionellen Kontext von Rhodos in spätosmanischer Zeit bis zur institutionellen Konsolidierung der italienischen Besetzung untersuchen. Der historische Hintergrund bietet sich als interessante und besondere Fallstudie für die Untersuchung des postimperialen Wandels und seiner Auswirkung auf die Bevölkerung in Südosteuropa: Kurz nach der Machtübernahme der Jungtürken und der Ausrufung der osmanischen Verfassung wurde Rhodos 1912 von Italien besetzt und bis 1945 verwaltet. Die Integration der Insel in den italienischen Staat entspricht dennoch nicht dem Paradigma einer raschen Assimilierung der Bevölkerung und der politischen Radikalisierung einer dominanten ethnischen Identifikation: Im Gegensatz zu vielen südosteuropäischen Kontexten blieb die ethnisch-religiöse Vielfalt – Rhodos war durch die Koexistenz der zahlenmäßig ausgeglichenen muslimischen, orthodoxen, jüdischen und in kleinerem Anteil „levantinischen“ Bevölkerung gekennzeichnet – in der Öffentlichkeit bis in die 1930er Jahre weitgehend erhalten, auch weil die Stadt von Bevölkerungs(zwangs)austauschen nicht betroffen wurde.
Unter diesen besonderen Umständen soll die Frage nachgegangen werden, welche Taktiken und Strategien Individuen verschiedener sozialer Herkunft entwarfen, um ihr Verhältnis zu den neuentstandenen Institutionen zu gestalten: Im Zentrum der Arbeit steht der Akteurenansatz, durch welchen die relevante biographische Erfahrung der lokalen Bevölkerung in Zusammenhang mit der sich entwickelnden politischen Lage gestellt wird. Als wichtiger Indikator dient dabei die Analyse der generationellen Interaktion, in welcher die vielfältige soziale Valenz der „Jugend“ bei drei Altersgruppen (jeweils die Jahrgänge um 1890, 1900 und 1910) hinterfragt werden soll. In diesem Rahmen sollen zwei Aspekte der Loyalität der lokalen Bevölkerung gegenüber den Institutionen und den politischen Machtträgern berücksichtigt werden: Zum einen, wie sich vorexistierende Klientelismus-Dynamiken im Laufe der Generationen in das neue, „exogene“ Verwaltungssystem fortsetzten; Zum anderen soll die Dialektik des Modernität-Diskurses – damals mit dem Anspruch auf politische Legitimation der Jungtürken und später der italienischen Herrschaft eng verknüpft – auf lokaler Ebene untersucht werden, um zu begreifen, welche Individuen davon marginalisiert bzw. ausgeschlossen wurden, indem deren „negative“ Valenz für die Repräsentation der sozialen und politischen Ordnung hinterfragt wird.
Der Zugang zu Archivquellen, Egodokumenten und zeitgenössischen lokalen Zeitungsartikeln in verschiedenen Sprachen (türkisch, griechisch, italienisch, ladino) und ihre Einordnung in einen polyphonischen und zugleich gemeinsamen sozio-politischen Kontext soll eine Alternative zu den bis heute dominierenden jeweiligen national(istich)en Perspektiven – oft durch einen stark gruppenbezogenen Fokus und deterministischen Ton gekennzeichnet – anbieten.
Die erste Phase des Projekts wird bis zum 31. März 2014 durch das Programm „Humboldt Research Track Scholarship“ im Rahmen der Exzellenzinitiative der Humboldt Graduate School gefördert.
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